Die Welt lesen

Wenn jemand gefragt wird, wie viele britische Autor*innen er kennt, kann man schnell drei aufzählen. Es ist nicht schwierig, an drei Autor*innen zu denken, da ihre Bücher so in unsere Gesellschaft eingebunden sind. Oder wenn man nach drei Autor*innen aus den USA denkt- ihre Werke wurden mehrfach übersetzt. Auch durch Verfilmungen, die enorme Einnahmen brachten, wie The Hunger Games oder Dune, blieben diese Bücher in den Köpfen der Menschen. Wie sieht es aber mit anderen Ländern aus? Kann jemand ohne lange zu überlegen drei chinesische oder mexikanische Autor*innen benennen?

Die Autorin Ann Morgan hat 2012 beschlossen, jeden Monat ein Buch aus einem anderen Land zu lesen. Auf ihrem Blog teilt sie die Liste A year of reading the world. Ihr Vorhaben hat sich ausgezahlt. Durch ihre Lektüre konnte sie die Kultur verschiedener Länder näher kennen lernen. Obwohl sie selber Schriftstellerin sei, habe sie bemerkt, dass sie nicht viele ausländische Autor*innen kennt. Viele Leser*innen haben dieselbe Erfahrung wie Ann Morgan gemacht: in der Schule wird ein Buch zum Lesen aufgeben, weil es  auf dem Lehrplan steht. Nach welchen Kriterien werden diese Werke für Schüler*innen ausgesucht? Sie haben einen Platz im literarischen Kanon. 

Doch wozu ist ein Kanon da? Ein literarischer Kanon misst die Werke, die sich fest in der Gesellschaft eingegliedert haben, die einen kulturellen Stellenwert besitzen. Die Werke sind jedoch hauptsächlich von europäischen Autor*innen geprägt. In der Universität werden diese Bücher gelesen und so geht es schließlich weiter: Werke aus bestimmten Ländern sind fester eingebunden als andere Länder. Shakespeares Werke kennt jeder. Autor*innen aus Namibia umso weniger. 

Es gibt unzählige Geschichten aus unzähligen Ländern. Das hat auch Ann Morgan bemerkt, nachdem sie ein Jahr andere Bücher als gewohnt las. Sich nur auf ein Land zu beschränken, untersagt Leser*innen, mehr aus Geschichten zu schöpfen. Man lernt Menschen aus verschiedenen Zeiten und Ländern kennen. Um beispielsweise mehr über die indigene Bevölkerung in Mexiko zu erfahren, reicht es nicht, sich einen Artikel durchzulesen. Dafür gibt es Werke wie Copo de Algodón María García Esperón und Marcos Almada Rivero. Dieser Roman erzählt die Ankunft der Spanier aus der Sicht einer indigenen Protagonistin. Ihre Perspektive wird häufig aus der Geschichte gelöscht. 

Dafür sind hier drei Werke aus anderen Ländern, die genau solche wichtigen Geschichten erzählen:

1. Like Water for Hot Chocolate (Como agua para chocolate) von Laura Esquivel: Das Werk erzählt die Geschichte von Tita, die in Mexico zur Zeit der Revolution lebt. Sie lebt in dem oppressive Haushalt ihrer Mutter, die sie schikaniert und missbraucht. Durch das Kochen lernt sie ihre Leidenschaft kennen und lernt, Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit zu erlangen. Titas Weg zur Unabhängigkeit passt zu den stürmischen Zeiten, in denen sich Mexiko Anfang des 20. Jahrhunderts befindet. Während der mexikanischen Revolution waren viele Frauen an Kämpfen beteiligt. Obwohl Tita nie ein Schlachtfeld betritt, kämpft sie im Haus ihrer Mutter für sich selber und behauptet sich jeden Tag. 

2. To Live (活着) von Yu Hua: Hauptpunkt dieses Werkes ist das Leben des Protagonisten Fugui, der während der Kulturrevolution in China seine Familie durchbringen muss. Die Kulturrevolution brachte viele Opfer da und es ist schwierig, sich ein Bild von den Gräueln zu machen. Durch das individuelle Schicksal von Fuguis Familie wird dem Leser die Entsetzlichkeit bewusst: die Kulturrevolution war nicht nur ein historisches Ereignis in der Vergangenheit. Es gab Menschen wie Fugui, die von ihrer Familie getrennt wurden und Hungersnot erleiden mussten. Das Werk hat eine enorme Resonanz, weil es in menschlicher Weise von dem Leiden der Figuren erzählt und wie sie am Ende Hoffnung finden. Eine Verfilmung erschien 1994, bei der Zhang Yimou Regie führte. 

3. Anna Edes (Édes Anna) von Dezső Kosztolányi: Der ungarische Autor erzählt die Geschichte eines Dienstmädchens nach dem Ersten Weltkrieg. Der Roman spielt im Jahr 1920, als der Vertrag von Trianon Ungarns Grenzen veränderte und das Land viel Territorium abgeben musste. Ein Thema, das im Roman aufgegriffen wird, ist die soziale Stellung der Protagonistin. Als Dienstmädchen hat Anna wenig Autonomie, ihre Arbeitgeber schauen auf sie herab. Immer wird ihr gesagt, was sie zu tun hat. Sie wird hauptsächlich als Maschine betrachtet, die immer für ihre Hauherren aufwarten muss. Ihre eigenen Entscheidungen werden nicht betrachtet. Kosztolányi schafft es, an einem Wendepunkt der ungarischen Geschichte in mitfühlender Weise von Annas Leiden zu erzählen. 

Ann Morgans Liste mit den Büchern ist hier zu finden: https://ayearofreadingtheworld.com/thelist/

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